StalderEveline_Zirkus_Farbe.png

Gemeinschaft auf der Brache: Vision der nachhaltigen Zwischennutzung

Posts tagged Nachbarschaft

Gemeinschaft auf der Brache:
Vision der nachhaltigen Zwischennutzung

von Eveline Stalder

Himmelblau, leicht abblätternder Lack. Eine feine, rote Schrift, schon halb verblasst, schwingt sich über die leicht verbeulte Seitenwand. «Federlos» steht da geschrieben. Ein weisses Segel spannt sich von der himmelblauen Wand zu den rustikalen Pflanzenkisten, ein paar bunt gemusterte Tücher wogen leicht im Wind. Ein Hauch von frisch gebrühtem Kaffee liegt in der Luft. Im Halbschatten des gespannten Sonnensegels stehen zusammengewürfelte Stühle, kleine Tische und zu Sitzgelegenheiten umgebaute Europaletten. Hinter dem grossen Paletten-Sofa lugen die vier stattlichen Räder des Zirkuswagens hervor. Ein etwas spröder Pneu, rot bemalte Felgen. Sie könnten rollen, jederzeit, tun es aber nicht. Denn hier auf der Brache Guggach steht der alte Wagen des Zirkus «federlos» still – zumindest vorübergehend. Denn Ramon Cassells hat den Zirkuswagen in ein Quartierkaffee verwandelt.

Abb. 1: Der umfunktionierte Zirkuswagen auf dem Areal der Brache Guggach, Zürich Oerlikon.

Abb. 1: Der umfunktionierte Zirkuswagen auf dem Areal der Brache Guggach, Zürich Oerlikon.

Brach & federlos – ein empirischer Film
Im Rahmen meiner Forschung zu Urbanen Kulturen der Nachhaltigkeit widmete ich mich dem Zirkuskafi F auf der Brache Guggach in Zürich Oerlikon. Die Brache ist ein Möglichkeitsraum oder «terrain vague», um in den Worten der Romanistin Jacqueline Maria Broich zu sprechen, wo Projekte und Initiativen von Bewohner/innen der Stadt ausprobiert und umgesetzt werden können. Ein solches «terrain vague» biete Raum für «imaginäre und praktische Raumaneignungen, in denen sich offenbart, wie sehr die Freiheit des Subjekts im urbanen Raum von regulierenden und entfremdenden Machtstrukturen umstellt ist» (Broich 2017, 280). Sie fügt an, dass auch auf der Stadtbrache noch immer die städtischen Machtstrukturen vorherrschen, aber die Brache nie ganz zu durchdringen vermögen. Die Brache ist somit eine Art Spielplatz, wo die Spielregeln bis zu einem gewissen Grad selbst geschrieben werden können. Mich interessierte dabei, wie Akteure aktiv Formen von nachhaltigem Handeln ausprobieren. Ausgehend davon thematisiere ich im Folgenden drei Kernbegriffe, die dem Nachhaltigkeitsverständnis von Ramon Cassells, dem bereits erwähnten Brachen-Barista, zugrunde liegen. Dabei versuche ich aufzuzeigen, wie sein Verständnis von nachhaltigem Handeln in seine Wertehaltungen und Praxen eingeflossen ist. Die drei Kernbegriffe sind der «Wert eines Dings», die «Selbsterhaltung» und die «Ressource Zeit».
Das von Ramon Cassells geführte Zirkuskafi F ist eines der vielzähligen Projekte auf der Brache Guggach. Es steht in diesem Text sowie im entstandenen Film im Zentrum. Die Brache Guggach ist ein eigenwilliger Ort. Um diesen Ort, seine Atmosphäre und Ästhetik, die Vielzahl an Projekten und Akteur/innen, das Vermischen von Stadt und Wohnzimmer so erfahrbar wie möglich zu machen, habe ich mich dafür entschieden, mich vorwiegend mit der Kamera auf die Feldforschung zu begeben. Bevor nun die Lektüre fortgesetzt wird, lade ich die Leserschaft freundlich ein, mich auf eine Reise durch dieses «terrain vague» zu begleiten.

Der Wert eines Dings

«Es strahlt einfach so einen… gewissen Wert aus.» (Ramon, 1:56)

Der Wagen, in dem Ramon sein Café eingerichtet hat, ist ein alter Zirkuswagen aus den 1960er-Jahren und stammt aus den Beständen des Zirkus federlos. Der Innenausbau des Wagens ist zu grossen Teilen aus Holz. Das Herzstück bildet eine Faema-Kaffemaschine, eine Kultmaschine für Liebhaber. Wie im empirischen Film (1:56) ersichtlich wird, sind für Ramon die Materialität der Dinge, deren Ästhetik und Strukturen von grosser Wichtigkeit. Über die Vorliebe zu einer gewissen rustikalen Ästhetik hinaus, schwingt bei den meisten Gegenständen eine Werthaltung besonders auffällig mit: der Wert des Dinges an sich. Beispiele sind der Zirkuswagen, das kleine Spielzeugauto, die Möbel. Die Dinge sind nicht auf ihre Funktion reduziert, sondern haben gewissermassen ein Eigenleben, eine Geschichte, einen eigenen Sinn. Das Ding reflektiert gleichsam durch seine Materialität seine eigene Geschichte. Der Zirkuswagen, zum Beispiel, deutet durch die vielen Nieten auf die aufwändige Arbeit hin, der leicht abblätternde Lack mit der Aufschrift «federlos» ist Zeuge aus der Zeit des Zirkus, die abgefahrenen Räder verweisen auf viele Kilometer Teerstrassen, der gefurchte Boden lässt die Vorstellungen daran, welche Geschichten er würde erzählen können, ins Phantastische abschweifen. Es war denn auch vor allem eben dieser Boden, der es Ramon sofort angetan hat und ihn inspirierte, den Wagen neu zu bespielen. Durch den Aufbau des Zirkuskafis und die ausgesuchte Dekoration wertschätzt Ramon die Dinge über deren ursprünglichen Verwendungszweck hinaus. Ein ähnliches Dingverhältnis beschreiben Andrea Baier und ihre Mitautor/innen im Band Die Welt reparieren auch für die DIY/DIT-Communities (Do-It-Yourself/Do-It-Together) in Deutschland, und setzen dieses in den Zusammenhang mit einer Kritik am kapitalistischen Denken:

«Das Ding ist nicht nur eine Projektionsfläche und ein Mittel zum Zweck, es wird in seiner Wesentlichkeit und in seiner viele Wirklichkeiten und Sozialitäten ermöglichenden und hervorbringenden Kapazität erkannt, von den Engführungen und Zurichtungen des kapitalistischen Industrialismus befreit und zum Aktanten in neuartigen Zusammenschlüssen» (Baier et al. 2016, 36).

Dinge können also zum «Aktanten» werden. Dass solche Aktanten in ihrer Wesentlichkeit und Kapazität erkannt werden, zeigt sich darin, dass ihnen auf der Brache ein untypischer Raum gegeben wurde und ihr Zweck anders definiert wird, wie im Beispiel des Upcyclings des Zirkuswagens zu einem Quartiercafé. Er wurde einst gebaut, um Artisten oder Zirkusmaterial von Stadt zu Stadt zu transportieren, nun aber wird er als temporär fixierte Gastronomie und Begegnungsraum für das Quartier genutzt. Der eben erwähnte Sammelband Die Welt reparieren ist eine Schrift von mehreren Vordenker/innen, Aktivist/innen oder «Macher/innen» (Baier et al. 2016, 23). Sie haben sich ironisch-unbescheiden die Aufgabe gestellt, die Welt zu reparieren, wie der proklamatische Titel bereits verlauten lässt. Ihre politische Praxis manifestiert sich im «Machen, Reparieren, Umbauen, Wiederverwerten» (Baier et al. 2016, 23). Auch das darüber Reflektieren, Sprechen und Publizieren ist nicht zu unterschätzen. Die im Band beschriebenen Garten‑, Reparier‑ oder Umbauprojekte erproben gewissermassen im Kleinen alternative Gesellschafts‑ und/oder Wirtschaftsmodelle. Die Projekte operieren quasi «in a nutshell» (Baier et al. 2016, 34), aber mit Interesse an einer grösseren Aussenwirkung. Im Zuge der Digitalisierung wird die Verbreitung des erlangten Gedankenguts immer einfacher und oftmals auch bewusst angestrebt. Die Herausgeber sprechen von einem neuen «Stil des Politischen» (Baier et al. 2016, 23). Die Projekte können gewissermassen als Labore für alternative Zukunftsformen betrachtet werden.
Damit dieses im Kleinen möglich ist, braucht es einen Ort, wo solch eine «nuthshell» (Baier et al. 2016, 34) nicht gleich zertreten oder weggeschwemmt wird. Eine kleine Insel, wo gesellschaftsstrukturierende Regeln nicht vollumfänglich gelten. Wie zum Beispiel eine Brache – oder wie bereits erwähnt, ein «terrain vague» (Broich 2017). Ramon sieht sich nicht als explizit politischen Menschen. Er bedauert sogar, dass er sich selbst nicht aktiver auf einer direkt politischen Ebene betätige. Und doch fand er auf der Brache Guggach einen Raum, ein «terrain vague» in einer «nutshell», welches er bespielt und so alternative Wertehaltungen, wie der Wert von Dingen, ausprobieren kann. Um aber als politischer Weltreparateur im Sinne Baiers und ihrer Mitautor/innen durchzugehen, müsste er noch dezidierter, als er das zurzeit tut, sein Handeln und dessen Aussenwirkung reflektieren, beispielsweise durch ein (digitales) Zugänglichmachen seines erlangten Wissens über Zwischennutzungen.

Selbsterhaltung

«Es muss einfach alles irgendwie aufgehen». (Ramon, 11:13)

Die beiden eingeführten Raumbegriffe «nutshell» sowie «terrain vague» teilen ein wichtiges Strukturelement: sie sind klar von ihrer Umwelt abgegrenzt. Nur durch diese Grenze zur Aussenwelt entsteht diese kleine Insel, die nach anderen Regeln funktioniert. Je nach Ebene können die Grenzen enger oder weiter gezogen sein. Jener Bereich, in dem Ramon diese Grenzlinien als besonders einengend wahrgenommen hat, war der Anspruch auf wirtschaftlichen Erfolg. Einen Zirkuswagen umzubauen, eine teure Kaffeemaschine anzuschaffen und den ganzen Sommer über von Mittwoch bis Sonntag präsent zu sein, braucht viele Ressourcen und risikoreiche Investitionen – sprich Zeit und Geld. Ramon zahlte sich für den Kaffeebetrieb, den er mehrheitlich allein betreute, keinen Lohn aus. Die Idee war, dass sich das Zirkuskafi F durch die Gastronomie selbst finanziere. Ramon definiert sein Projekt als nicht-gewinnorientiertes und soziales Projekt. Denn das Zirkuskafi F soll in erster Linie als Community-Treffpunkt die Interaktionen im Gemeinwesen fördern.
Er denke aber durchaus kommerziell, denn das Projekt solle sich schlussendlich selbst erhalten. Ramon spricht in diesem Zusammenhang von Subsistenz, Selbsterhaltung. Ramons Subsistenzstrategie liegt darin, dass das Café einen Raum bilden soll, der für «Begegnungen und Interaktionen optimale Voraussetzungen» biete, wie er in seinem Konzept zum Zirkuskafi F schreibt. Durch Käfele wird das Zusammentreffen von Menschen vereinfacht und längerfristig von der Community durch ihren Konsum selbst getragen. So lautete die Vision zu Beginn des Projektes. Die Umsetzung im Sommer 2018 brachte vor allem zwei Brüche zwischen der Vision und der praktischen Umsetzung zum Vorschein: Erstens der lange Prozess der Community-Bildung (worauf ich im nächsten Abschnitt eingehen werde) und die Aushandlung der Suffizienz.
Denn was heisst «sich selbst erhalten» im konkreten Fall des Zirkuskafi F? Erstens: Das Café darf nicht über längere Zeit defizitär wirtschaften, ansonsten fehlen die materiellen oder monetären Grundlagen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Zweitens darf aber auch der Community-Gedanke im Zuge des monetären Wirtschaftens nicht verloren gehen. Das soziale Projekt, welches nach kommerziellen Regeln spielt, muss sich in diesem Spannungsfeld immer wieder neu positionieren und behaupten. Wenn es um die Erwirtschaftung von Gewinn geht, muss ausgehandelt werden, inwiefern dies für den Selbsterhalt des Projekts notwendig ist. Ein Beispiel sind grosse Events wie die «Musikwelle» oder die «Street Food Days»: Ramon machte die Erfahrung, dass solche Events externer Veranstalter viele Besucher/innen auf die Brache ziehen, was zwar die Kasse gut füllte, aber nichts zum Aufbau der Quartiercommunity und zur Interaktion im Gemeinwesen beitrugen.
Dass diese Frage Bestandteil eines Aushandlungsprozesses darstellt, wird in der Sitzung zwischen einem Festival, welches auf der Brache logieren wollte, und den Akteuren auf der Brache (7:14–10:28) sichtbar. Es wurde zum Beispiel anhand des Bierverkaufs kontrovers diskutiert, ob und wie ein Gewinnverzicht für die jeweiligen Parteien tragbar wäre. Wer soll wie viel Gewinn machen können? Auf wie viele Einnahmen kann zu Gunsten der Solidarität verzichtet werden? Ist Gewinn für ein soziales Projekt überhaupt notwendig? Wenn ja, wie viel?
«Es muss einfach irgendwie aufgehen», meint Ramon, «die Frage ist nicht, wie viel du verdienst. Die Frage ist, wie viel du brauchst». Was er hier implizit anspricht, ist Suffizienz. Suffizient wird abgeleitet vom lateinischen «sufficere = ausreichen, genügen» und steht für «das richtige Maß», beziehungsweise «ein genügend an» (Lexikon der Nachhaltigkeit: Suffizienz). Laut dem Lexikon der Nachhaltigkeit wird Suffizienz oft mit «nachhaltigem Konsum» in Verbindung gebracht. Der Begriff stehe dabei für die Selbstbegrenzung und Entschleunigung sowie das richtige Mass an «Konsum, Konsumverzicht und Entkommerzialisierung» (Lexikon der Nachhaltigkeit: Suffizienz). In meiner Forschung wurde deutlich, dass Ramon immer wieder mit dem Aushandlungsprozess, dieses richtige Mass zu finden, zu ringen hatte. Ein Prozess, der bisweilen konfliktreicht verläuft: sei dies in der Aushandlung mit anderen Akteuren auf der Brache, wie in der erwähnten Bierdiskussion mit den Festivalplanern, oder auch als innerer Konflikt Ramons, wobei Ramon zwischen aufopferndem Pionier für das Projekt und wirtschaftlich denkendem Gastronom hin und her gerissen ist.
Dieser Konflikt, welcher das Projekt zuweilen zu zerreissen droht, wird unter anderem durch die oben angesprochenen Begrenzungen der Spielemöglichkeiten auf der Brache impliziert. Solange die Regeln des Kapitalismus nicht ausgehebelt werden können, wird dieser Konflikt meines Erachtens nicht aufzulösen sein. Dies war auch Ramons Fazit am Ende dieses Sommers (2018). Er meinte, dass seine Vision des Community-Cafés (zumindest zu Beginn) auf eine tragende Struktur angewiesen sei, zum Beispiel auf Förderung der Stadt oder anderen Institutionen. Vor allem, wenn ein Communityprojekt wie das Zirkuskafi F über längere Zeit oder ausserhalb der Brache Bestand haben soll, ist das Risiko für eine Einzelperson zu hoch.

Abb. 2: Die Quartiergärtner der Brache Guggach treffen sich für Kafi und Gipfeli beim Zirkuskafi F.

Abb. 2: Die Quartiergärtner der Brache Guggach treffen sich für Kafi und Gipfeli beim Zirkuskafi F.

Ressource Zeit

«Auch wenn es befristet ist. Das ist vielleicht sogar gut.» (Ramon, 18:10)

Die Brache ist ein wuchernder Spielplatz, umgeben von Stadtlärm. Das Ablaufdatum des «Freiraums» ist durch ein bereits projektiertes Bauvorhaben im Hintergrund stets omnipräsent. 2021 wird an die Stelle des brachen Platzes eine Baustelle treten. Während zweier Jahren soll vor Ort eine neue Wohnsiedlung inklusive Kindergarten, Schule und Quartierpark gebaut werden. Das nahende Ende hält die Benutzerinnen und Benutzer der Brache aber nicht davon ab, sich aktiv, kreativ und schöpferisch ihren Projekten zu widmen. Die Koordination und Organisation auf der Brache übernimmt das Team Quartierarbeit des GZ Bucheggs (Gemeinschaftszentrum der Stiftung "Zürcher Gemeinschaftszentren") zusammen mit Grün Stadt Zürich. Gemäss ihrem Leitbild werden Projekte, in denen «nachhaltige, vielfältige, nicht kommerzielle Nutzungen […] im Vordergrund» stehen (Brache Guggach: Leitbild und Nutzungsregeln) gefördert. Mir drängte sich die Frage auf, inwiefern Projekte, die mit einem Ablaufdatum von zwei bis drei Jahren gegründet werden, Anspruch auf Nachhaltigkeit erheben können. Natürlich tragen die Quartiergärten zur Selbsterhaltung der Quartierbevölkerung bei, das Compotoi verwertet Exkremente zu Kompost und die Bienen der Wabe3-Gruppe bestäuben Pflanzen in der Umgebung. Hier schien mir der ökologisch nachhaltige Ansatz selbst in der kurzen Zeitspanne gegeben. Aber wie ist das bei einem Café wie dem Zirkuskafi F, welches sich zum Ziel gesetzt hat, eine soziale Nachhaltigkeit zu erreichen und eine Quartier-Community aufzubauen?
Ramon spricht von «nachhaltigen Beziehungen». Er möchte der Nachbarschaft ein «Zelt» bieten, wo die Bewohnerinnen und Bewohner sich treffen und Beziehungen entstehen können. Er möchte einen geschützten Rahmen für nachbarschaftliche Projekte ermöglichen. Ziel sei es, Kontaktzonen zu bieten, die Menschen aus einem Stadtteil zusammenbringen, die sich sonst nicht treffen. Ähnlich formulierte die Kulturwissenschaftlerin Maria Grewe die Ziele von Repair Cafes, welche sie in einem Beitrag als «communities of practice» (Grewe 2017, 283) interpretierte. Ein wichtiger Aspekt bei Repair Cafes sei «die lokale Verankerung der Initiativen» (Grewe 2017, 283). Diese Repair Cafes böten in «lokalen Veranstaltungen Identifikationsmöglichkeiten, in denen sich Nachbarschaft materialisieren kann» (Grewe 2017, 283). Genauso kann das Café von Ramon Identifikationsmöglichkeiten bieten. Er begrüsst ganz konkret eigeninitiierte Projekte aus der Nachbarschaft wie Geburtstagsfeste, Brunchs, Workshops, Konzerte et cetera. Ramon betont, wie wichtig es sei, die Community aktiv in Planungsprozesse einzubeziehen, da gerade das gemeinsame Planen geteilte Erfahrungen schaffe und Beziehungen herstelle oder stärke. Eine Filmszene (14:11-15:10) zeigt Ramon, Yvette und Florian im Gespräch. Sie alle wohnen im Quartier und sind häufig auf der Brache. Yvette backt die Kuchen, die im Zirkuskafi F verkauft werden und hilft Ramon in dieser Szene, das Dessertbuffet für die Gäste eines Events vorzubereiten. Florian ist einer der Organisatoren der Quartiergärten und regelmässiger Kunde von Ramon, bringt ihm aber auch ab und zu ein selbstgezogener Zucchetto aus dem Garten mit. In dieser kurzen Szene sind alle drei locker am Plaudern und Witzeln. Dieses zwanglose Aufeinandertreffen von drei Anwohner/innen mit unterschiedlichen Ausrichtungen wird durch das aufgespannte Zelt von Ramon möglich gemacht.
Ramon sieht sich selbst als «Entfalter» von etwas, das «nachhallt». Im Film wird klar, dass dies anlässlich der begrenzten Zeit des Projektes auf der Brache Guggach eine grosse Herausforderung darstellt. Interessant war, dass Ramon im Dialog mit mir diesen grundlegenden Widerspruch stark reflektierte. Es schien ihm ein Anliegen zu sein, mir zu vermitteln, dass sich seine Arbeit durchaus auch im Sinne der Nachhaltigkeit lohnte. Erst nach vielen Stunden Interview, am letzten gefilmten Tag, konnte er retrospektivisch argumentieren, warum Community-Arbeit sich gerade in beschränkten Zeitfenstern besonders lohne: er begann, die Zeit als beschränkte Ressource zu denken. Etwas, dass nachhaltig sein soll, also auf die Zukunft gerichtet ist, muss in der gegebenen Zeit, also in der Gegenwart, passieren. Gerade weil die Zeit beschränkt sei, müsse man sie intensiv nutzen, um etwas zu schaffen, das nachhallen könne, das bestehen bleiben könne: sei dies an einem anderen Ort oder in einer anderen, transformierten Form. «Zeit nutzen», so lautete sein Fazit.

Die nachhaltige Brache
Das Fazit meiner Forschung lautete ganz ähnlich: Die zwischengenutzte Brache ermöglicht es, Formen von nachhaltigem Handeln auszuprobieren, sie ist ein Spielplatz, ein Möglichkeitsraum. Einige Werteverschiebungen oder neue Strukturmodelle konnten fruchten, wie die neue Wertigkeit der Dinge oder ein identitätsstiftender Treffpunkt, andere bleiben trotz allem von den Regeln des weiteren Umfelds bestimmt, wie zum Beispiel der Versuch zur Subsistenz, der Selbsterhaltung. Und zum guten Schluss: Auch Zeit ist auf der Brache als eine beschränkte Ressource zu verstehen. Die Zeit ist beschränkt und gerade deshalb – hier sind wir beim Kern der Nachhaltigkeit angekommen – wertvoll. Beschränkte Ressourcen bedingen ein bewusstes Handeln, welches die vorhandenen Ressourcen so investiert, dass die Ressourcen für die Zukunft sichergestellt werden oder aber in etwas transformiert werden, was die Zukunft an sich sicherstellt. Am Beispiel der Zeit zeigt sich dies besonders deutlich: Die Ressource Zeit vergeht – wortwörtlich – im Sekundentakt. Nur weil die Zeit beschränkt ist, nicht mit einer Investition in die Zukunft zu beginnen, wäre ein Trugschluss. Gerade weil die Ressource beschränkt ist, muss sie in der Gegenwart dafür eingesetzt werden, um etwas zu schaffen, was in der Zukunft ‹nachhallen› kann, um hier die schöne Formulierung von Ramon zu verwenden.

Abb. 3: Ramon gönnt sich sein Feierabendbier auf seinem «Deck».

Abb. 3: Ramon gönnt sich sein Feierabendbier auf seinem «Deck».

Literaturverzeichnis

Baier, Andrea, Tom Hansing, Christa Müller et al. (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: Transcript, 2016.

Brache Guggach: Leitbild und Nutzungsregeln, URL: https://gz-zh.ch/fileadmin/gz-daten/buchegg/Brache/Leitbild_Nutzungsregeln_Brache_Guggach.pdf (Abgerufen: 19.07.2018).

Broich, Jacqueline Maria und Daniel Ritter (Hg.): Die Stadtbrache als «terrain vague». Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur. Bielefeld: transcript Verlag, 2017.

Grewe, Maria: Reparieren als nachhaltige Praxis im Umgang mit begrenzten Ressourcen? Kulturwissenschaftliche Notizen zum «Repair Café». In: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hg.): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2015, 267 – 289.

Lexikon der Nachhaltigkeit: Suffizienz, URL: https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/suffizienz_2034.html (Abgerufen: 26.11.2018).

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Filmstill von Eveline Stalder, August 2018.

Abb. 2: Filmstill von Eveline Stalder, August 2018.

Abb. 3: Filmstill von Eveline Stalder, September 2018.