Urbane Kulturen der Nachhaltigkeit
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Würmer im Kreislauf des Lebens: Alltägliches Recyceln mit dem Wurmkomposter

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Würmer im Kreislauf des Lebens:
Alltägliches Recyceln mit dem Wurmkomposter

von Sarah Matter

Jedes Jahr werden in der Schweiz unzählige Würmer, in Paketen verpackt, mit der Post verschickt. Mit Enthusiasmus werden die Pakete von ihren Empfängerinnen und Empfängern entgegengenommen und rasch ausgepackt. Doch wie kommt es, dass eine solch eklige Postsendung bei ihren Adressatinnen und Adressaten Freude auslöst? Dies hat mit dem ganz besonderen Absender jener Pakete zu tun – beim besagten Paketinhalt handelt es sich nämlich nicht um einen schlechten Scherz, sondern um den «Treibstoff» für praktisch gelebte Nachhaltigkeit: Der Absender ist WormUp, ein Schweizer Startup, das sich für die Wiederverwendung von Bioabfall mithilfe von Würmern einsetzt. Ein Produkt, das diese Firma anbietet, ist der sogenannte WormUp Home. Dieses Tongefäss, welches man in seiner Wohnung aufstellen kann, dient der nachhaltigen Entsorgung beziehungsweise Wiederverwertung von Grünabfällen, wobei die Würmer Bioabfälle zu organischem Dünger verarbeiten. Zu diesem Zweck wurden Kompostwürmer – im Marketing-Jargon der Firma Matterworms genannt – der Spezies Eisenia fetida aufgrund ihrer Vorliebe und Effektivität für das Kompostieren auf engem Raum ausgesucht. Ihren Marketingnamen haben die Würmer wohl der Tatsache zu verdanken, dass besagte Firma ihre tierische Handelsware im Wallis züchten lässt, was laut einschlägiger Auskunft auf der Webseite ohne technische Hilfsmittel geschehe. Mit Blick auf ihre Lebensweise handelt es sich bei ihnen um streubewohnende Regenwürmer, das heisst, sie graben keine Löcher in den Boden, sondern bleiben an der Bodenoberfläche direkt unter den verwelkten Blättern im Wald, beziehungsweise eben unter den Grünabfällen aus der Küche (vgl. WormUp 2018, o. S.). In der heutigen Gesellschaft wie der unsrigen – einer Wegwerfgesellschaft – braucht es laut der Kulturwissenschaftlerin Mirjam Hauser einen verantwortungsvollen und aufgeklärten Umgang mit Abfällen (vgl. Mirjam Hauser 2012, 6). Denn die Menge der Abfälle steigt und jene der verfügbaren Ressourcen sinkt. Allein in der Schweiz landen jedes Jahr eine halbe Million Tonnen Bioabfall in der Mülltonne (vgl. WormUp 2018, o. S.). Um aufzuzeigen, aus welchen Gründen und in welcher Weise verschiedene Personen – gleichgültig ob Stadtmensch oder Landei – das Wurm-Kompostieren in ihrem Alltag praktizieren, führte ich drei Interviews durch. Zwei davon jeweils mit Kundinnen von WormUp, Viviane (Vgl. Anm. 1) und Jasmine, und eines mit Katja, aus dem Team von WormUp. Aufbauend aus meinen Erkenntnissen aus diesen Gesprächen möchte ich in den nächsten Abschnitten unterschiedliche Aspekte und Werte beleuchten, welche mit einem solchen «nachhaltigen Alltag mit Würmern» zusammenhängen.

Nachhaltige Kreisläufe
Allgemein gesagt, basiert Nachhaltigkeit auf dem Gedanken, dass die Nutzung von nachwachsenden, regenerierbaren Ressourcen in dem Ausmass erfolgt, wie die Ressourcen nachwachsen und regenerieren können (vgl. Schwer 2018, o. S.). Demnach erfordert Nachhaltigkeit laut Mirjam Hauser (vgl. Hauser 2012, 8) einen bewussten und sorgfältigen Umgang mit Ressourcen im Alltag wie beispielsweise die Trennung von PET, Glas, Karton, Altpapier und Konservendosen aber auch die der Grünabfälle, welche wiederverwertet und ‑verwendet werden können. Ein vergleichbares Verständnis von Nachhaltigkeit besitzen auch die beiden interviewten Kundinnen von WormUp, Viviane und Jasmine. Beide betonen die Wichtigkeit eines sorgfältigen und bewussten Umgangs mit Ressourcen im Alltag. Dazu gehört für sie nicht nur die Trennung des Mülls, sondern ebenso ein nach regionalen Gesichtspunkten gestaltetes Einkaufen oder das Beachten des Haltbarkeitsdatums, was das Wegwerfen von Essen Zuhause zu vermeiden helfen soll. Jasmine zufolge bekomme man dieses nachhaltige Bewusstsein erst ab einem bestimmten Alter, da es eine gewisse Reife und Lebenserfahrung brauche. Zusätzlich betont sie, dass die Medien vermehrt auf unsere Umweltprobleme aufmerksam machen würden. Für Katja, die bei WormUp arbeitet, bedeutet Nachhaltigkeit langes Dauern, das heisst, die Ressourcen, welche der Umwelt entnommen werden, sollten im selben Zustand oder wertvoller zurückgegeben werden. Genau dies bezweckt Recycling beziehungsweise Kompostierung und wird laut Ethnologin und Volkskundlerin Sonja Windmüller als «Rückführung in den Kreislauf» (Windmüller 2004, 191) definiert. Vergleichbar betont Mirjam Hauser  die Relevanz der Rückführung von gebrauchten Ressourcen in die Umwelt, damit sich der Gesamtkreislauf in der Natur schliessen könne (vgl. Hauser 2012, 22). In diesem Sinne argumentiert auch die Soziologin Andrea Baier, die betont, dass unter diesem Gesichtspunkt bei einer Produktion die Wertschöpfungskette ganz vollendet werden müsse: Damit keine Ressourcen verloren gingen, sollten die Produkte entweder wiedereinsetzbar sein oder den Neuanfang anderer Produkte bilden (vgl. Baier 2016, 94). Im Gespräch mit Katja wurde das soeben genannte nochmals verdeutlicht. Ihrer Meinung nach ist ein Produkt am besten, wenn es nach seiner Verbrauchszeit nicht zu Abfall wird, sondern nochmals eingesetzt werden oder den Neuanfang eines anderen Produktes bilden kann. Auf diese Weise gingen keine Ressourcen verloren und der Kreislauf werde geschlossen. Damit dies in der Praxis umgesetzt werden könne, muss laut Baier das Konzept des Kreislaufes zunehmend in der Gesellschaft verankert werden (vgl. Baier 2016, 94).
In ganz grundsätzlicher Weise postuliert Sonja Windmüller, dass sich die gegenwärtige Gesellschaft immer mehr dem Kreislauf der Natur annähere (vgl. Windmüller 2004, 191). Dies ist auch der Tenor diverser anderer kulturwissenschaftlicher und philosophischer Erörterungen zum Thema Abfall: Laut dem Kulturwissenschaftler Herbert Wittl möchte die heutige Gesellschaft Abfälle ähnlich den natürlichen Kreisläufen verwerten und im häuslichen Alltag integrieren (vgl. Wittl 1996, 32). In einem natürlichen Kreislauf gehe nichts verloren, da nur ein Wandel der Dinge stattfinde, so Peter Mucke in seinem Buch Zum Beispiel Müll (vgl. Mucke 1993, 13). Der Wandel beherrsche unterschiedliche Prozesse von Aufbau und Zersetzung. Die Natur mache es uns vor: Im Verlauf eines Tages fänden massenhafte Recyclingprozesse statt – in einem Kreislauf, der keinen Abfall und keine Verluste kenne (vgl. Mucke 1993, 13). Deswegen müsse, so das Fazit von Andrea Baier, die Menschheit zurück an den Anfang und sich wieder stärker an der Natur orientieren, um die Umwelt und ihre Ressourcen zu schützen (vgl. Baier 2016, 47). Nur auf diese Weise könne sie die Abfälle effektiv verwerten und in den Alltag integrieren. In den Augen Baiers  basiert der Kreislauf auf zwei Ebenen. Einerseits umfasse er den Prozess des Recyclings selbst und andererseits finde er sich auch in den Auffassungen der Gesellschaft wieder (vgl. Baier 2016, 47). Vergleichbar argumentiert auch Katja, die mir im Gespräch erklärte, die Natur mache der Gesellschaft vor, wie der Kreislauf des Lebens funktioniere. Alles in der Natur sei Geburt und Tod. Nur habe sich unsere Gesellschaft von den natürlichen Kreisläufen entfernt, sich nur auf den Aufbau beziehungsweise das Wachstum konzentriert und vergessen, dass es irgendwann auch zu einem Abbau komme. Und zum Schluss, meinte Katja, hätten wir nur endliche Ressourcen und nach einer gewissen Zeit seien diese aufgebraucht. Aber wenn die Gesellschaft ihr Denken umstrukturiere und sich vermehrt an der Natur orientiere, gelänge sie automatisch zu den natürlichen Kreisläufen.

Recycling vermittelt positive Gedanken
Vor dem Hintergrund der eben skizzierten anthropologischen Ausführungen sind die Aussagen von Mirjam Hauser, dass sich heutige Konsument/innen nicht nur über den Konsum, sondern auch über die Entsorgung definieren würden, äusserst plausibel:

«Recycling gibt den Menschen das Gefühl, etwas tun zu können – Konsumenten definieren sich also nicht nur über den Konsum (was sie kaufen), sondern auch übers Recycling (wie sie entsorgen). Recycling ist folglich ein Element, über das sich Menschen definieren können, und das wird den gesellschaftlichen Diskurs verändern» (Hauser 2012, 26).

Menschen fühlen sich gemäss Hauser also besser, wenn sie zum Beispiel ihre Küchenabfälle wieder‑ und weiterverwenden können. Der Kulturwissenschaftler Peter Hörz  fasst diesen Aspekt unter dem Begriff der «Selbstwirksamkeit» zusammen und beschreibt diese als das Gefühl, auch angesichts grosser, globaler Probleme mit kleinen Änderungen im eigenen Alltag trotzdem etwas bewirken zu können (vgl. Hörz 2017, 203). Hörz umschreibt diese Einstellung als «eine mit aufgekrempelten Ärmeln selbst in die Hand genommene Form der Krisenbewältigung» (Hörz 2017, 219).
Meine Gesprächspartnerinnen, Viviane und Jasmine, fanden es eine attraktive Idee, selber etwas gegen die Verschwendung von Ressourcen tun und gleichzeitig ihre Grünabfälle effektiver nutzen zu können. Dies gibt ihnen ein besseres Gefühl, da sie weniger wegwerfen müssen. Dabei sind Selbstständigkeit und Eigenständigkeit bei der Wiederverwendung von Abfällen für beide zentral und es erfüllt sie durchaus mit Stolz, eigene Komposterde für ihren Garten beziehungsweise ihre Blumentöpfe zu produzieren.

Sauberer und ästhetischer Müll
Gemäss Mirjam Hauser wurde Müll von Konsumenten/innen lange Zeit negativ betrachtet (vgl. Hauser 2012, 30). Er war verbraucht, wurde nicht mehr gebraucht und galt so als schmuddelig, unhygienisch oder schmutzig. Auch laut Sonja Windmüller besteht oftmals eine Abwehrhaltung gegenüber Abfall und seinen organischen Bestandteilen (vgl. Windmüller 2004, 259). Jedoch bezieht sich dieses Ekelgefühl nicht auf alle Abfallaspekte und ‑segmente gleichermassen. Vor allem organisch-biologische Bestandteile werden mit Wörtern wie Unrat oder Schmutz verbunden. In den letzten Jahren entstand jedoch ein neues Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen und die Umwelt. Somit kam es zu einer Umwertung und Abfall wurde vermehrt als Rohstoff wahrgenommen und wertgeschätzt. Jasmine beispielsweise kompostiert mithilfe ihres Wurmkomposters biologische Abfälle wie Gemüse, Früchte, Teesatz, Kaffee, Eierschalen, Blumen, Laub, Haare und Zellulosehaltiges wie Papier, Karton und Eierschachteln. Katja meint dazu, dass wir nichts wegschmeissen, was wir eigentlich gerne behalten möchten. Es fühle sich nämlich merkwürdig an, etwas Lebendiges wegzuwerfen, da all dies doch wertvolle Ressourcen seien, welche man selbst weiterverwerten und ‑verwenden könne. Zum Beispiel stellen die biologischen Abfallreste aus der Küche für die Würmer eine Nahrungsquelle dar.

Abb. 1: Biologische Küchenabfälle im Wurmkomposter.

Abb. 1: Biologische Küchenabfälle im Wurmkomposter.

In Zusammenhang mit der Popularität des WormUp Home ist neben der neuen Wertschätzung des biologischen Abfalls als sauberer Rohstoff auch die ästhetische Komponente von Bedeutung. Grundsätzlich weist Andrea Baier darauf hin, dass Ästhetik auch für Nachhaltigkeitsbelange grosse Wichtigkeit besitze (vgl. Baier 2016, 132). So erfreut sich beispielsweise das Handgemachte erneuter Wertschätzung, da es sich von der Massenware entfernt und dadurch zu etwas Exklusivem wird. Diese spezifische Schönheit eines Produktes ist oftmals mit Stolz verbunden (vgl. Lepik 2016, o. S.). Im Gespräch mit Katja wurde deutlich, dass Ästhetik auch für WormUp von Bedeutung ist. Sie begründete dies unter anderem damit, dass sie mit ihrem Produkt einen mehrheitsfähigen Geschmack ansprechen wollten, dass also Kunden/innen es nicht verstecken müssten und es Freude bereiten soll. Dadurch, dass der WormUp Home handgemacht ist und sich individuell umfunktionieren lässt, wird er von seinen Besitzern/innen nicht als typisches Massenprodukt wahrgenommen, sondern erhält den Status von etwas Einzigartigem zugeschrieben. Zum Beispiel hat Jasmine das Tongefäss des Wurmkomposters zu einem kleinen Tisch in ihrem Wohnzimmer umfunktioniert und gebraucht den Deckel als Ablage, um diverse Sachen daraufzustellen. Wäre der Komposter jedoch aus Plastik gewesen, betonte sie im Gespräch, hätte sie ihn nicht gekauft, denn er müsse schon «stylisch und attraktiv» aussehen. Neben der grundsätzlichen Umwertung des Abfalls und der Ästhetisierung des Objekts gibt es auch einen ganz praktischen Aspekt, der als weitere Voraussetzung für die Popularität des Komposters erwähnt werden muss – und zwar der Geruch. Durch seine Funktionsweise stinkt er nicht, sondern soll vielmehr nach frischer Erde duften. Viviane meinte, dies könnte für Personen in Stadtwohnungen ohne Garten von Bedeutung sein. So könnten sie ihre biologischen Abfälle im Wurmkomposter, der gewissermassen ein Mini-Ökosystem darstelle (vgl. WormUp 2018, o. S.), bei sich zu Hause verwerten und gleichzeitig vom frischen Duft der Natur profitieren – trotz urbanem Wohnumfeld.

Abb. 2: Der Wurmkomposter WormUp Home.

Abb. 2: Der Wurmkomposter WormUp Home.

Nachhaltiges Bewusstsein verbindet
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird ein nachhaltiger Lebensstil oftmals mit sozialer Distinktion und hohen Kosten gleichgesetzt. Gemäss dem Soziologen Sighard Neckel bedeutet ökologische Distinktion in erster Linie eine Abgrenzung zu anderen Bevölkerungsgruppen (vgl. Neckel 2018, 65). So betrachte die für Nachhaltigkeit sensibilisierte Mittelschicht die unteren Schichten laut Guy Standing (2011, o. S.) als «gefährliche Klassen», welche mit ihrer Lebensweise die ökologische Nachhaltigkeit gefährden (vgl. Neckel 2018, 67). Aus unternehmerischer Warte wies Katja eine solche Interpretation jedoch zurück und betonte vielmehr den gegenteiligen Aspekt: Das Startup WormUp strebe eine sehr breite Kundschaft wie Familien, Senioren/innen in kleinen Stadtwohnungen und Studenten/innen an. In der Auffassung des Unternehmens verbinde das nachhaltige Bewusstsein alle miteinander. WormUp fokussiere nicht auf bestimmte Bevölkerungsschichten, sondern möchte alle Bevölkerungsgruppen ansprechen. Zwar seien, wie Katja durchaus einräumt, die Produkte von WormUp zu Beginn mit hohen Kosten verbunden, da die Produktion der Wurmkomposter aufwändig sei. Das meiste davon sei Handarbeit und werde in Deutschland produziert. Es sei speziell das Material Ton ausgesucht worden, da dieser über eine gute Atmungsaktivität verfüge. Dafür, so die weitere Argumentation Katjas, habe man als Kunde/in später dann weniger Ausgaben in anderen Bereichen. Man brauche weniger gebührenpflichtige Kehrichtsäcke und müsse keine Blumenerde mehr kaufen. Wie schon oben erwähnt, verfügt WormUp über eine breite Kundschaft. Wie Katja weiter ausführte, ist der Wurmkomposter nicht nur aus finanzieller Warte, sondern auch in lebensweltlicher Hinsicht ein Produkt, das durchaus verschiedene Bevölkerungskreise anzusprechen vermöge. So seien beispielsweise Senioren/innen vom WormUp Home angetan, da das Kompostieren für sie selbstverständlich sei und zum Alltag gehöre. Viele Senioren/innen seien in einem Haushalt aufgewachsen, wo früher kompostiert wurde. Daher sei dies für sie etwas ganz Selbstverständliches. Andere ältere Kunden/innen hätten früher einen Garten gehabt und wohnten jetzt in einer kleinen Wohnung, wollten aber immer noch kompostieren. Auch viele Familien mit Kindern seien daran interessiert, denn den Kindern bereiten die Würmer Freude und den Eltern sei es wichtig, den Kindern zu zeigen, was nachhaltiges Bewusstsein bedeute und möchten ihnen dieses Wissen mit auf den Weg geben, damit sie dies eines Tages selber umsetzen könnten. Katja illustrierte mir dies mit einem kurzen Beispiel, in welchem die Eltern den Kindern erklären, was nachhaltiges Bewusstsein bedeutet: «Kuck, du tust den Apfel in den Wurmkomposter rein. Es ist kein Abfall, sondern es ist Nahrung für die Würmer und schenkt neues Leben».
Unbesehen dieses Selbstverständnisses, mit dem Wurmkomposter ein Produkt für die breite Bevölkerung anzubieten, gibt es in seinem alltäglichen Gebrauch jedoch eine praktische Einschränkung, die zugleich eine soziale Exklusivität möglicher Nutzer/innen zumindest andeutet. Deren Essgewohnheiten sind nämlich für das reibungslose Funktionieren des Komposters nicht unbedeutend – ziehen doch die Würmer Rohkost gekochten und verarbeiteten Speisen vor. Betrachtet man mit dem eben erwähnten Soziologen Sighard Neckel die Ernährungsweise als wichtigen Schichtindikator beziehungsweise noch genereller bestimmte Merkmale der Lebensführung als valente «Signale der Distinktion» (Neckel 2018, 67), so spricht eine vorwiegend auf rohe Früchte und Gemüse aufbauende Alltagsküche plötzlich Bände. Man ist (beziehungsweise wird als das angesehen), was man isst: Gemäss den Professoren Carl Cederström aus Stockholm und André Spicer aus London wird eine gesunde Ernährung in der gegenwärtigen Alltagskultur nicht nur mit Erfolg, stressfreier Zeit und das Leben im Griff zu haben verbunden, sondern auch mit der Übernahme von Verantwortung gegenüber seiner Umwelt (vgl. Cederström und Spicer 2016, 14). Für den Bereich Ernährung gilt daher ganz besonders, was die Kulturanthropologin Maria Grewe für Nachhaltigkeit im Allgemeinen festgehalten hat: «Nachhaltigkeit als ein normatives Deutungsmuster gibt spezifische Praktiken vor, codiert das ‹gute› oder ‹richtige› Handeln und markiert damit auch ethische Haltungen» (Grewe 2015, 278).

Würmer als Haustiere
Wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben wurde, gelten die Würmer als tüchtige und selbstständige Arbeiter, welche die Grünabfälle zu organischem Dünger verarbeiten. Viviane meint, mit den Würmern lebe es sich ganz gut. Sie finde es lustig, ihnen zuzusehen, wie sie reagierten, wenn sie ihre Grünabfälle in den Komposter reinwirft. Trotzdem sei es manchmal nicht immer ganz einfach. Am Anfang hätte sie ein paar Probleme gehabt. In der ersten Nacht seien einige Würmer ausgebrochen und am nächsten Tag fand sie ein paar Leichen auf dem Boden. Sie waren sofort vertrocknet. Daraufhin hat sie – ganz konsequent – die toten Würmer in den Wurmkomposter reingetan, damit sie verwertet und kompostiert werden. Zu Beginn stand der Wurmkomposter in ihrer Küche, weil es so bequem war, die biologischen Küchenabfälle zu entsorgen, da man weniger Schritte machen musste. Doch er verlor Flüssigkeit und darum wurde er nach draussen verlagert. Dieser neue Standort hatte zur Folge, dass Viviane den Würmern mehr Aufmerksamkeit schenken musste als bisher: Es galt ab nun, auch auf die Temperaturen zu achten, damit die Würmer es nicht zu heiss oder zu kalt haben. Nichtsdestotrotz bezeichnet sie die Würmer als ihre kleinen Haustiere. Sie hat sich durch die anfangs intensive Pflege an die Tiere gewöhnt, schätzt ihre selbstständige Arbeit und trägt ihnen Sorge. Sie hat etwas, um das sie sich kümmern kann.

Nochmals zusammengewurmt
Wer hätte gedacht, dass ein Paket voller Würmer, das per Post verschickt wird, Freude bereitet und sogar einen kleinen Beitrag gegen die Ressourcenknappheit bedeuten kann? Wahrscheinlich nicht jede/r... Das Leben mit den Würmern lässt verschiedene Elemente und Werte aufscheinen, welche mit einem nachhaltigen Alltag verbunden sind. Um Nachhaltigkeit in der Praxis umsetzen zu können, muss sich die Gesellschaft zuerst in ihren Gedanken an den Kreisläufen der Natur orientieren. Denn die Natur macht uns vor, wie aus Tod wieder Leben wird. Genau diese Denkweise hat das Schweizer Startup WormUp in Form eines Wurmkomposters – einem Mini-Ökosystem – umgesetzt. Die Würmer sind tüchtige und selbstständige Arbeiter, welche die biologischen Küchenabfälle zu organischem Dünger verarbeiten, der für die Bepflanzung eingesetzt werden kann. Die Wiederverwertung von Grünabfällen kann nicht nur als Kampf gegen die Verschwendung von Ressourcen betrachtet werden, diese Handlung gibt den betreffenden Personen oftmals ein «besseres Gefühl». Man fühlt sich besser, wenn man aktiv gegen die Ressourcenknappheit vorgehen kann, man fühlt Selbstwirksamkeit. Doch es brauchte seine Zeit, bis Recycling kulturell vermittelt und von der Gesellschaft akzeptiert wurde. Denn lange Zeit galt Abfall als Schmutz und Unrat, bevor er als wertvolle Ressource wertgeschätzt wurde und es sogar zur Ästhetisierung eines geruchlosen Mülls kam. Doch von allen diesen Aspekten bekommen die Würmer in ihrem Komposter nichts mit, verarbeiten den biologischen Abfall fleissig zu Dünger weiter und bereiten somit den Nutzern und Nutzerinnen in urbanen Gebieten Freude.

Anmerkungen

Anm. 1: Name geändert, diese sowie alle auch im Folgenden zitierten Interviewpartnerinnen wurden jeweils anonymisiert.

Literaturverzeichnis

Baier, Andrea, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner: Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: Transcript, 2016.

Cederström, Carl und André Spicer: Das Wellness-Syndrom. Die Glücksdoktrin und der perfekte Mensch. Berlin: Klaus Bittermann, 2016.

Hauser, Mirjam: Vom Abfall zum Rohstoff? Die Zukunft des Recyclings. Perspektiven und Potenziale für einen nachhaltigen Umgang mit Haushaltsabfällen. Rüschlikon/Zürich: GDI, 2012.

Hörz, Peter F. N.: Agrarlust in der Stadt. Praxen und Selbstdeutungen im Kontext von Urban Farming. In: Nikola Langreiter und Klara Löffler (Hg.): Selber machen. Diskurse und Praktiken des «Do it yourself». Bielefeld: Transcript, 2017, 197–219.

Grewe, Maria: Reparieren als nachhaltige Praxis im Umgang mit begrenzten Ressourcen? Kulturwissenschaftliche Notizen zum ,Repair Café’. In: Markus Tauschek und Maria Grewe (Hg.): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Frankfurt/M. und New York: Campus 2015, 267–289.

Lepik, Andres: Keine Ethik ohne Ästhetik. URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/architektur-und-gesellschaft/gesellschaftlich-relevante-architektur-mehr-ethik-und-mehr-aesthetik-ld.108225 (Abgerufen: 19.11.2018).

Mucke, Peter: Zum Beispiel Müll. Göttingen: Lamuv, 1993.

Neckel, Sieghard b: Ökologische Distinktion. Soziale Grenzziehung im Zeichen von Nachhaltigkeit. In: Sieghard Neckel, Natalia Besedovsky und Moritz Boddenberg u. a. (Hg.): Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms. Bielefeld: Transcript, 2018, 59–76.

Schwer, Lea: Nachhaltigkeit Definition. URL: https://www.nachhaltigleben.ch/nachhaltigkeit-definition-1038 (Abgerufen: 19.11.2018). 

Standing, Guy: The Precariat. The New Dangerous Class. London: Bloomsburry, 2011.

Windmüller, Sonja: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall; Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem (Europäische Ethnologie, 2). Münster: LIT, 2004.

Wittl, Herbert: Recycling. Vom neuen Umgang mit Dingen. Regensburg: S. Roderer Verlag, 1996.

WormUp: Recycle deinen Bioabfall geruchslos Zuhause. URL: https://www.wormup.ch (Abgerufen: 19.11.2018).

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Fotografie von Sarah Matter, Zürich, November 2018.

Abb. 2: Fotografie von Sarah Matter, Zürich, November 2018.