Urbane Kulturen der Nachhaltigkeit
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Natürlich nachhaltig konsumieren: Die Ästhetik von Bio-Läden

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Natürlich nachhaltig konsumieren:
Die Ästhetik von Bio-Läden

von Basil Biedermann

«Bioladen»... Bereits das Wort führt zu Assoziationen im Kopf eines jeden Lesers und einer jeden Leserin. Mein Bild von Bioläden wurde bereits in meiner Kindheit geprägt. Damals war ich immer wieder mit meiner Mutter in Reformhäusern, Weltläden und eben Bio-Supermärkten einkaufen, wobei letztere zu dieser Zeit noch eine Seltenheit waren. In Bern eröffnete 1992 mit Vatter das erste solche Geschäft der Schweiz (vgl. Der Bund: Vatter schliesst Bio-Markt). Das Erscheinungsbild, die Gestaltung des Ladens, das Sortiment – alles war irgendwie anders als in den Filialen grosser Supermarktketten, besonders aber der Geruch. Ein eigener, nicht zu definierender Geruch, den ich so sonst noch nirgendwo gerochen habe. Davor nicht und danach nicht. Ein Geruch, der sich mir bis heute eingeprägt hat und unwiderruflich mit dem Laden verbunden ist. Das Traditionsgeschäft, welches bereits früher von derselben Familie als Gartenbedarfshandlung geführt wurde, musste 2011 – entgegen dem bereits damals ausgeprägten Trend – schliessen (vgl. Der Bund: Vatter schliesst Bio-Markt). Kunden, die heute einen Bioladen besuchen wollen, haben eine breitere Auswahl als noch in den 1990er-Jahren. Besonders gilt dies für Zürich. Die Vielfalt ist gross und die Standorte befinden sich über die gesamte Stadt verteilt. Was sie alle verbindet, ist die bewusste Auswahl ihrer Produkte, welche verschiedene Richtlinien erfüllen und Labels tragen müssen. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten nicht. Auch in ihrer Aufmachung, ihrer Ästhetik, gibt es erstaunlich vielfältige Überschneidungen zwischen den Läden, wie die folgende Untersuchung zeigen soll.

Bio in Albisrieden, Altstetten und Höngg
Aus dem reichhaltigen Spektrum an Bioläden der Stadt Zürich habe ich drei ausgewählt und während des Sommers 2018 besucht. Der Beweggrund dafür war die Frage, ob solche Läden eine gemeinsame Ästhetik aufweisen, sozusagen eine Ästhetik der Nachhaltigkeit, und wenn ja, wie diese sich äussert. Dabei interessierten mich nicht nur die Einrichtungen, deren Materialien und Farben, sondern generell die Gestaltung der Räume, die Präsentation der Waren und das Dekor. Neben diesen Aspekten standen weiter auch die sprachliche, visuelle und thematische Gestaltung der Internetseiten und die hier festzustellenden Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Geschäften im Zentrum meines Interesses.
Um eine möglichst weite Bandbreite abdecken zu können, fiel die Auswahl auf – formal betrachtet – eher unterschiedliche Läden, ohne jedoch damit den Anspruch zu verfolgen, sämtliche Typen von Bioläden berücksichtigt zu haben.
Besucht und genauer betrachtet wurden erstens der noch eher junge BachserMärt Albisrieden, als Teil einer kleinen lokalen Ladenkette, dann Der Bioladen in Altstetten, den es seit 2006 gibt und der als selbstständiges Einzelunternehmen funktioniert, und schliesslich den von der Migros betriebenen Alnatura Bio Supermarkt in Höngg, als Vertreter eines international tätigen Grossunternehmens.
Die Beobachtungen wurden während der Besuche festgehalten und im Anschluss zusammengetragen und ausgewertet. Besonders Ansätze aus der Diplomarbeit der Ethnologin Sibylle Brändli über die Konsumkultur und den Wohlstand in der Schweiz nach 1945 bereicherten meine Analysen in theoretischer Hinsicht.

Abb. 1: Kühltresen im Der Bioladen.

Abb. 1: Kühltresen im Der Bioladen.

Zeitmaschine Bioladen
Die Ladentheke war ein Einrichtungsgegenstand, welcher lange Zeit das Bild von Lebensmittelgeschäften prägte. Über sie hinweg fand der Kontakt zwischen Kund/innen und Personal statt, Kaufwünsche wurden geäussert, Fragen gestellt, Waren und Geld ausgetauscht. Die Bedientheke unterteilte den Ladenraum und diente als Barriere und Abstellfläche, wie Brändli feststellte (vgl. Brändli 2000, 73f.). Heute findet man sie in Supermärkten kaum noch. In grossen Filialen bekannter Detailhändler mag man auf eine bediente Käse- oder Fleischtheke stossen, in kleineren Ladenlokalen lohnt sich dies allerdings oft nicht mehr. Sie wich einer weniger personalintensiven und massentauglicheren Verkaufsform, dem Selbstbedienungsladen. Dieser sollte alle wesentlichen Alltagsgüter unter einem Dach bereitstellen und zwar so, dass sich die Kundschaft selbst leicht zurechtfindet und bedienen kann (vgl. Brändli 2000, 73f.). Ein Ladenkonzept, wie wir es heute fast ausschliesslich kennen.
In den beiden besuchten Filialen vom BachserMärt in Albisrieden und Der Bioladen in Altstetten findet man allerdings noch ein solches, vom Aussterben bedrohtes Einrichtungsobjekt und dies erst noch prominent platziert: Gleich nach dem Eintreten steht man vor ihm und wie damals üblich, erfüllt der Tresen verschiedene Funktionen. Frisches Brot ist an der Wand hinter dem Verkaufspersonal gut sichtbar aufgereiht und der Käse in der Kühltheke davor verströmt einen deutlich wahrnehmbaren Geruch. Hier, in der Mitte der beiden Läden, befinden sich auch die Kassen. Es ist ein Bild, wie man es nur noch selten in Supermärkten sieht und so erwecken die zwei Geschäfte ein wenig den Eindruck, aus der Zeit gefallen zu sein. Dieser Eindruck wird durch ein weiteres Gestaltungselement zusätzlich verstärkt: In allen drei besuchten Geschäften ist ein Grossteil der Verkaufseinrichtung aus Holz gefertigt. Nicht nur Harassen oder Körbe zum Präsentieren von Waren sind in den Filialen häufig zu finden, auch Tische, Verkleidungen von Regalsystemen oder die Regale selbst, welche aus naturbelassenem Holz geschreinert sind, lassen sich hier sehr häufig antreffen. In Albisrieden und Altstetten erwecken einige dieser Möbelstücke den Eindruck, selbstgefertigt oder umgenutzt worden zu sein. Dieser Umstand muss nicht zwingend nur das Ergebnis pragmatischer Entscheidungen und Materialbedingungen sein, sondern kann auch bestimmten Vorstellungen oder Werten entsprungen sein. Es sind Alternativen zu den vorherrschenden Angeboten und Möglichkeiten, wie Sebastian Hackenschmidt, welcher sich als Kurator am MAK Wien mit Möbeln und Do-It-Yourself-Designs beschäftigt, festhält (vgl. Hackenschmidt 2017, 275). Zudem, so führt er weiter aus, mag diese Warenästhetik die gesellschaftspolitische Einstellung der Gegenkultur um und nach 1968 aufgreifen, welche sich für eine autonome und von Konsumzwängen freie Lebensführung einsetzte (vgl. Hackenschmidt 2017, 286). Solche Praktiken können daher genauso unter dem Aspekt eines kreativen Umgangs mit Materialien verstanden werden, wie die Kulturanthropologin Maria Grewe meint (vgl. Grewe 2015, 271). Gerade die Verwendung des gemeinhin als authentisch erachteten Materials «Holz» könnte man, der Argumentation der Kulturwissenschaftlerin Michaela Fenske folgend, auch als einen hippen Gegentrend zum digitalen Boom und als Sehnsucht nach dem «realen Leben» interpretieren (vgl. Fenske 2017, 225). Besonders im urbanen Kreativmilieu, welches ein zentrales Milieu für nachhaltige Lebens- und Konsumstile bildet, sind laut Fenske solche Rückgriffe auf Ästhetiken, Praktiken und Wissensbestände der Vormoderne oder des 19. Jahrhunderts gegenwärtig wieder sehr beliebt (vgl. Fenske 2017, 223). Diese Ästhetiken mit ihrer Bezugnahme auf bestimmte materielle Kulturen sind dadurch auch auf «Authentifizierung» bedacht (vgl. Fenske 2017, 232).
All diese Material- und Einrichtungsstile laden die Geschäfte, welche nach einer solchen Ästhetik eingerichtet sind, – gewollt oder nicht – mit Ideen und Werten auf und lassen Assoziationen in den Köpfen der Kund/innen entstehen. Diese evozierten Bilder werden durch weitere Facetten der Ladeneinrichtungen zusätzlich verstärkt, denn zu den Möbeln kommen auch noch die Bodenbeläge aus Stein oder Holz, das eher spärlich verwendete Plastik und die grossen Fenster, die die Läden mit viel Sonnenlicht erhellen. Die eingesetzten Farben, welche eine «knallige» oder künstliche Anmutung vermeiden und oft eher warm und erdig sind, tragen ebenfalls zur Atmosphäre bei. Orange Bodenplatten im Terrakotta-Stil, dunkelbraune Holzdielen, das Lindgrün der Schürzen oder ein kräftiges Gelb an den Wänden. Gemeinsam erweckt all dies den Eindruck von Naturnähe, passend zu den Ladenkonzepten, welche auf dem Verkauf von natürlichen und ressourcenschonenden Produkten basieren und einen ökologischen Ansatz verfolgen.

Eine Ästhetik der Genügsamkeit
Das von einer Bäckerei angelieferte Gebäck und die verschiedenen Käsesorten in der Kühltheke erzeugen beim BachserMärt und beim Der Bioladen ein Gefühl von Qualität und Frische. Dies geschieht durch die bewusste Auswahl des überschaubaren Angebots und dessen Produktion durch kleinere spezialisierte Betriebe und durch die Regionalität der Waren. Im Alnatura Bio Supermarkt gibt es zwar keinen bedienten Tresen, doch auch hier vermögen das vor Ort (auf-) gebackene Brot, wie man es aus anderen Filialen von Grossverteilern kennt, oder ein kleines Kühlregal mit einem spezielleren Käsesortiment ähnliche Eindrücke zu erwecken. Schaut man sich das restliche Angebot, welches in allen drei Fällen vorwiegend aus Lebensmitteln besteht, an, bestätigt sich die Empfindung. Die Bio-Siegel und -Labels sind dabei kaum der einzige Grund für das bewusste Sortiment; der eher bescheidene Platz fordert zwangsläufig gewisse Beschränkungen. In vielen Fällen scheint die Wahl auf Waren gefallen zu sein, die man so sonst nicht bei gewöhnlichen Detailhändlern kaufen kann. Die Ingredienzien erscheinen auf den ersten Blick teils etwas befremdlich, wie Chips aus Kichererbsen oder Limonade mit Ingwer-Geschmack. Die Gestaltung der Verpackungen und Etiketten sind dabei oft schlicht, die Farben häufig erdig. Sie passen somit auch von ihrem Erscheinungsbild her in die Läden, die sie vertreiben. Zahlreiche Angebote stammen aus der näheren Umgebung oder zumindest aus der Schweiz. Gerade frische, nicht grossindustriell hergestellte Waren sind nicht von weit weg, wie auch das saisonale Gemüse und die Früchte, welche von hiesigen Produzent/innen stammen und grösstenteils offen verkauft werden.

Abb. 2: Ladenfront des BachserMärts Albisrieden.

Abb. 2: Ladenfront des BachserMärts Albisrieden.

Viele der bis hierhin genannten Merkmale könnte man unter dem Titel «Ästhetik der Genügsamkeit» zusammenfassen. Diese bezieht sich nicht nur auf die Grösse der Läden, die Einrichtung und Gestaltung dieser sowie auf die Produkte und deren Verpackung, sondern ebenfalls auf – mit Blick auf gewöhnliche Supermärkte – die bescheidene Fülle in den Regalen.
Sybille Brändli untersuchte in ihrer bereits erwähnten Studie auch die Platzierung des Angebots in Supermärkten und stellte fest, dass in herkömmlichen Läden keine optisch grossen Lücken in den Warenreihen entstehen sollen (vgl. Brändli 2000, 87). Mit Spiegeln und Licht wird der Eindruck erweckt, dass eine grössere Warenmenge vorhanden ist, als es tatsächlich der Fall ist (vgl. Brändli 2000, 90). Diesen optischen Eindruck gewinnt man so in den untersuchten Geschäften nicht. Zwar wirkten die Regale beim Besuch in keiner Filiale spärlich gefüllt, aber gerade bei den verderblichen Angeboten wie den Backwaren, dem Gemüse und den Früchten waren während des samstag-nachmittäglichen Besuchs durchaus Lücken im Sortiment und eine überschaubare Menge an einzelnen Waren auszumachen. So gab es nur noch eine beschränkte Auswahl an Broten und auch von gewissen Gemüse- und Früchtesorten fand man bloss einzelne Stücke zu kaufen, dafür allerdings teilweise eher exotische Produkte wie Kurkuma-Wurzeln, Süsskartoffeln oder die alte Tomatensorte Berner Rose. Zudem fehlten die eben erwähnten Spiegel oder Tricks mit dem Licht. Die Kulturanthropologin Regina Bendix stellte betreffend spärlich gefüllter Regale fest, dass «halbvolle Gemüseauslagen und Nahrungsmittelregale [...] Ängste der Verknappung und Erinnerungen an Kriegshunger» erwecken würden (Bendix 2015, 252), Gefühle, die so bei den Kunden dieser Bioläden nicht aufzukommen scheinen.
Ein weiterer Aspekt, welcher zur «Ästhetik der Genügsamkeit» gezählt werden kann, ist die Grösse der untersuchten Filialen. Diese ist eher bescheiden bemessen, weshalb man wohl auch nur eine überschaubare Anzahl an Einkaufswagen vorfindet, die sich ohnehin bloss schwer durch die teilweise eher schmalen Gänge manövrieren lassen. Gerade auf den BachserMärt und Der Bioladen treffen diese Beobachtungen besonders zu. Dort stehen dann auch einfache Kassen ohne Fliessband oder Scanner und mit bloss wenig Ablagefläche für die Einkäufe. Es wirkt, als würden überbordende Kaufexzesse ausbleiben, und Hektik nicht einmal kurz vor Ladenschluss aufkommen. Die Geschäfte verströmen eine entspannte Atmosphäre, auch dank Bänken im Inneren der Filialen oder gleich davor, welche die Kundschaft zum unaufgeregten Verweilen und Plaudern einladen. Der isländische Ethnologe Jón Thor Pétursson beobachtete dies auch im von ihm untersuchten Bioladen Yggdrasill in Reykjavik. Zahlreiche Leute kamen vorbei und verweilten für längere Konversationen mit anderen Kund/innen oder mit dem Personal, somit ging auch hier der Einkauf gemächlich vonstatten und Schlangen vor den Kassen bildeten sich kaum. Tische und Stühle boten ebenfalls die Möglichkeit, sich hinzusetzen und innezuhalten. Dadurch entstand eine Community, die über das Shoppen hinausging. Durch emotionale Praktiken, den Austausch, das Teilen von Gefühlen, Werten und Ideen verlor der Ort die Anonymität, wie sie in vielen modernen Supermärkten herrscht, und es entstand Intimität. Pétursson bezeichnete diese, mit Verweis auf den biologischen Hintergrund des Ladens, als «organic intimacy» (vgl. Pétursson 2018). Somit scheinen gewisse Beobachtungen, die in Zürich gemacht wurden, durchaus übertragbar und keine lokalen Phänomene zu sein.

Vermittelte Werte und erzählte Geschichten
Nicht nur die eben erwähnten Sitzgelegenheiten ermöglichen menschliche Interaktionen und Konversationen, auch die Ladentheke steht sinnbildlich für solche Praktiken. Seien es Fragen an das Personal, die Bestellung eines Brotes oder der Bezahlvorgang, hier kommen Menschen in Kontakt, hier können aktiv Narrative und Werte vermittelt werden. Letzteres geschieht sonst vor allem auf den Internetseiten der Filialen. Online werden die Geschichten der Geschäfte, die Beweggründe der Betreiber/innen, ihre Konzepte, lokalen Partner/innen und saisonalen, naturbelassenen und frischen Waren vorgestellt sowie verschiedene regionale und nachhaltige landwirtschaftliche Initiativen, an welchen man sich beteiligt. Es wird dabei wiederholt betont, wie wichtig kurze Transportwege und Spezialitäten aus der Umgebung sind (vgl. Alnatura Migros: Über Alnatura; Der Bioladen; BachserMärt). Solche Erzählungen, die die Hintergründe von Bioläden erläutern, sind zentraler Bestandteil ihrer Aussendarstellung. Sie werden wiederholt und weitergegeben und prägen so auch unser Bild des Begriffs «Bio» und «Bioladen». Von besonderer Bedeutung sind die Erzählungen der online präsentierten Firmenchroniken: Es sind Geschichten über den Anfang im Kleinen, der biologischen Vision der Gründer/innen, das langsame Wachstum und von den Produzent/innen, mit welchen zusammengearbeitet wird. Dahinter stehen (Wert-)Vorstellungen von natürlichen und gesunden Produkten mit einem intensiveren Geschmack, aber auch Fragen betreffend Ethik und Ökologie, wie Pétursson im Zusammenhang mit dem erwähnten Bioladen in Reykjavik festhält (vgl. Pétursson 2018). So sind es nicht einfach nur Informationen über die Läden und ihre Produkte, die hier weitergegeben werden, es sind Formen von – wie es der Schweizer Kulturwissenschaftler Tobias Scheidegger bezogen auf die Vermarktung artisanaler Produkte nannte – «narrativen Lebensmittelzusätzen». Zusätze, die Produkte mit einer individuellen Erzählung versehen; die erzählten Geschichten führen zu Emotionen. Sie wirken verbindend und fördern Familiarität zwischen Kund/innen, Personal und Produzent/innen, also Intimität statt Anonymität, die man sonst oft in modernen Kaufhäusern findet (vgl. Scheidegger 2009, 206). Solche Erzählungen sollen die Lebensmittel aufwerten – eine Absicht, die sich gleichermassen in einer spezifischen Warenästhetik entsprechender Produkte widerspiegelt (vgl. Scheidegger 2009, 209). Diese Feststellungen, die auf «bäuerliche» Lebensmittelspezialitäten bezogen waren, lassen sich auch auf die sich gleichenden Bio-Supermärkte und ihre häufig ähnlich daherkommenden Waren übertragen. Geschichten über die Hintergründe der Waren und Produzent/innen, Bilder von glücklichen Tieren und Konsument/innen, zahlreiche Naturaufnahmen und Fotos von unverarbeiteten Rohstoffen; allesamt findet man sie auf den Internetseiten der Shops und allesamt sind sie Träger einer gewissen Botschaft. Der deutsche Philosoph Wolfgang Fritz Haug kritisiert in einem vergleichbaren Zusammenhang, dass der Schein der Ware für den Vollzug des Kaufakts wichtiger wird als das Sein (vgl. Haug 1980, 17). Die Erscheinung verspricht mehr, als das Produkt an sich hergibt. Dies gilt auch für die umschreibenden Texte und die Fotografien auf den Internetseiten, die das Angebot zusätzlich aufwerten. Es ist eine Vermarktungsstrategie, die auf eine grosse potentielle Käufer/innenschicht abzielt. Nach dem deutschen Soziologen Sighard Neckel ist nicht nur die ökologisch eingestellte Mittelschicht, welche in grossstädtischen Regionen bis zu einem Viertel der Haushalte ausmacht, interessiert an Bio-Produkten, sondern zusätzlich auch, in etwa einem halb so grossen Umfang, das liberale und kulturell progressive Milieu, oft mit einem akademischen Hintergrund und aus den höheren Einkommensschichten (vgl. Neckel 2018a, 62).
Auch wenn die Mehrheit der untersuchten Geschäfte keinen spezifisch urbanen Anschein machen, sind sie, betrachtet man die Dichte von biologischen Supermärkten in Zürich, ein klarer Ausdruck dieses urbanen Milieus, denn hier ist ihre Kundschaft zuhause, wie Neckel betont:

«Die Wählerschaft der Grünen, zweifellos durch eine starke Affinität zu ökologischen Werten charakterisiert, wird sozialstrukturell den neuen Mittelschichten zugerechnet. Sie hat ein überdurchschnittlich hohes Einkommen, ist vornehmlich im Dienstleistungs- und Bildungsbereich beschäftigt und lebt in den urbanen Zentren und in Universitätsstädten.» (Neckel 2018a, 60f).

Die Werte, die auf den Internetseiten vermittelt werden und sich in der Gestaltung der Läden äussern, sprechen genau diese kaufkräftige Kundschaft an. Dies gilt auch für weitere Aspekte, die im Zusammenhang mit diesen Supermärkten genannt werden können; beispielsweise die Prominenz von regionalen Produkten und Spezialitäten. Die in den Läden sichtbare kulinarische Regionalisierung kann als konsumzentrierte Antwort auf die europaweiten Standardisierungsprozesse verstanden werden (vgl. Scheidegger 2009, 205) sowie als Widerstand gegen die globalen homogenisierenden Tendenzen der westlichen Massenkulturen, wie die Ökonomin Marta Neunteufel und die Agrarwissenschaftlerin Sophie Pfusterschmid in ihrem Text über Globalität, Regionalität und Nachhaltigkeit anmerkten (vgl. Neunteufel, Pfusterschmid 2012, 150). Zusätzlich muss hier auch die «Nachhaltigkeit» erwähnt werden, als eines der Schlagworte, welches immer wieder im Zusammenhang mit Bio genannt wird. Obwohl sich verschiedenste Seiten positiv auf Nachhaltigkeit als einen zentralen Wert und als eine Leitlinie des Handels beziehen, hat sich der Begriff doch mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen angereichert, wie Sighard Neckel feststellt (vgl. Neckel 2018b, 12). Es handelt sich dabei also um eine sehr facettenreiche Begrifflichkeit, die sich aus diesem Grund leicht durch verschiedene Akteur/innen instrumentalisieren lässt. Die unklare Definition kann dazu genutzt werden, um Unterschiedlichstes mit Nachhaltigkeit in Zusammenhang zu bringen und dadurch entsprechend zu konnotieren. Ähnlich verhält es sich bei den zuvor erwähnten, mit Bio und Bioläden verbundenen Werten und Ideen: durch die Übernahme damit in Beziehung stehender ästhetischer Merkmale kann der Anschein erweckt werden, eine grössere Nähe zu diesen Vorstellungen zu haben, als dies tatsächlich der Fall ist. Diese Vereinnahmung ermöglicht es, einkommensstarke Konsument/innengruppen anzusprechen, die mit diesen vermittelten Werten und Ideen sympathisieren.
Was steckt hinter der natürlichen Fassade? Ob es im Vatter in Bern damals einen Tresen gab, weiss ich nicht mehr. So wie der Laden jedoch in meiner Erinnerung aussieht, würde es mich nicht überraschen, wies er doch meines Erachtens durchaus zahlreiche Ähnlichkeiten mit den Geschäften in Albisrieden und Altstetten auf. Zwar doppelstöckig, aber dennoch mit einer kleinen Ladenfläche, einem vielfältigen, auf Esswaren ausgelegten Sortiment, aber ohne alles in Fülle in den Regalen zu haben. Die Bilder im Kopf liessen in diesem Fall ebenfalls auf eine Ästhetik der Genügsamkeit schliessen, welche sich in der überschaubaren Grösse des Ladens, der zurückhaltenden Einrichtung und Gestaltung äusserte, aber auch in dem wohl ausgewählten Sortiment, welches die Regale nicht überfüllte und auszusagen schien «es hat solange es hat». Diese Ästhetik stellt sich dar als eine Abkehr von riesigen Einkaufszentren und eine Beschränkung auf das Nötigste für das alltägliche Leben mit besonderem Fokus auf die Lebensmittel. Man findet vorwiegend Regionales, Saisonales und – wo möglich – Unverpacktes, vor allem beim frischen Angebot. Es stechen Produkte ins Auge, die zum einen für solch kleinere Läden aussergewöhnlich, weil eher exotisch sind, und zum anderen findet man Aussergewöhnliches, weil man es in herkömmlichen Läden in dieser Form nicht oder nur selten antrifft. Der ausschweifende Konsum wird hier nicht zelebriert, vollgefüllte Einkaufswagen sind die Ausnahme, ein gehetztes, schnelles Shoppen eine Seltenheit. Man lässt sich Zeit, trifft sich, unterhält sich. Ein Verhalten, das im hektischen urbanen Getümmel etwas befremdlich erscheinen mag, wie auch die ganzen erdigen Farben und natürlichen Materialien anstelle von Plastik und Neonlicht. Es ist eine Ästhetik, die sich durch Sparsamkeit und Improvisation äussert, entweder echte, aus der Situation geborene oder aber simulierte, um so einem Bild zu entsprechen und einem Narrativ gerecht zu werden, welches als Zusätze den Produkten mitgegeben wird. Wie sehr diese Aufmachung und Erscheinungsweise auch den jeweils verfolgten Werten und Praktiken entspricht – also wie authentisch diese Inszenierungen letztlich sind – lässt sich von aussen schwer abschätzen. Die Nutzung gewisser Bilder, um damit ein entsprechendes Image zu verkörpern und eine ganz spezifische Käuferschaft anzulocken, ist, aufgrund der unklar und verschieden definierten Begrifflichkeit «Nachhaltigkeit» wohl gerade für Grossverteiler, die es auf die kaufkräftige Kundschaft aus der urbanen, gut ausgebildeten Mittelschicht abgesehen haben, verlockend. Die Frage stellt sich – fasst man die Bestrebungen, nachhaltige und biologische Produkte zu konsumieren, als positiv und erstrebenswert auf –, ob es in dem Fall überhaupt eine Rolle spielt, was die Beweggründe der Supermärkte hinter dem Verkauf solcher Waren sind. Ist es, bei einer solchen Auffassung, nicht an sich positiv, solche Ansätze voranzutreiben? Egal, was im Kern dahintersteckt. Eine Frage, die jeder Konsument und jede Konsumentin für sich selbst zu beantworten hat.

Literaturverzeichnis

Alnatura Migros, URL: https://alnatura.migros.ch/de.html (Abgerufen: 19.11.2018).

BachserMärt, URL: http://bachsermaert.ch (Abgerufen: 19.11.2018).

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Brändli, Sibylle: Der Supermarkt im Kopf. Konsumkultur und Wohlstand in der Schweiznach 1945. Wien: Böhlau, 2000.

Der Bioladen, URL: https://derbioladen.ch (Abgerufen: 19.11.2018).

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Fenske, Michaela: Historisches Wissen als Ressource. Wie das urbane Kreativmilieu mit Vergangenheit Zukunft (selbst-)macht. In: Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.): Selber machen. Diskurse und Praktiken des «Do it yourself». Bielefeld: Transcript, 2017, 221–243.

Grewe, Maria: Reparieren als nachhaltige Praxis im Umgang mit begrenzten Ressourcen? Kulturwissenschaftliche Notizen zum «Repair Café». In: Markus Tauschek, Maria Grewe (Hg.): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2015, 267–289.

Hackenschmidt, Sebastian: DIY-Möbel. Designstrategien zwischen alternativen Lebensstilen und Warenästhetik. In: Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.): Selber machen. Diskurse und Praktiken des «Do it yourself». Bielefeld: Transcript, 2017, 268–286.

Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980.

Neckel, Sighard: Ökologische Distinktion. Soziale Grenzziehung im Zeichen von Nachhaltigkeit. In: Sighard Neckel u.a. (Hg.): Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms. Bielefeld: Transcript, 2018a, 59–76.

Neckel, Sighard: Die gesellschaft der Nachhaltigkeit. Soziologische Perspektive. In: Sieghard Neckel u.a. (Hg.): Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms. Bielefeld: Transcript, 2018b, 11–24.

Neunteufel, Marta, Sophie Pfusterschmid: Global, Regional, Nachhaltig – eine Triade für die Zukunft? Wien: Passagen Verlag, 2012.

Pétursson, Jón Þór: Organic intimacy: emotional practices at an organic store. Agriculture and Human Values 35 (2018), URL: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs10460-018-9851-y.pdf (Abgerufen: 25.08.2018).

Scheidegger, Tobias: Der Boom des Bäuerlichen: neue Bauern-Bilder in Werbung, Warenästhetik und bäuerlicher Selbstdarstellung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 105/2 (2009), 193–219.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Kühltresen im Der Bioladen, https://derbioladen.ch/wp-content/uploads/2016/06/DSC_1208.jpeg (Abgerufen: 26.11.2018).

Abb. 2 Ladenfront des BachserMärts Albisrieden, https://twitter.com/taucherligmbh/status/644940352617598976 (Abgerufen: 26.11.2018).